Leseempfehlungen unseres Teams



Elif Shafak: Am Himmel die Flüsse (Annette)
Der gerade erschienene Roman von Elif Shafak Am Himmel die Flüsse ist mit über 500 Seiten eine wunderbare Lektüre für den Urlaub. Im Zentrum des Romans steht die märchenhafte Welt Mesopotamiens, des Zweistromlandes mit seinen alten Kulturen und Orten, wie z. B. der versunkenen Stadt Ninive, deren Schätze und Geheimnisse hier eine wichtige Rolle spielen. Wie auf eine abenteuerliche Reise durch die Jahrhunderte nimmt Elif Shafak uns mit auf die Lebenswege der drei Charaktere: Arthur, der „König der Abwasserkanäle“, Zaleekhah der Wissenschaftlerin und Narin, dem jezidischen Mädchen. Im Laufe der Geschichte führen uns die Ereignisse von London über die Türkei nach Ninive und zurück und immer ist Wasser das verbindende und lebensprägende Element. Wie eine ungeheuer packende Biografie liest sich der Lebensweg Arthurs, eines bettelarmen englischen Jungen, den Shafak einem historisches Vorbild nachempfunden hat: Als Autodidakt findet er einen Weg aus dem Elend der Armenquartiere des 19. Jahrhunderts und entdeckt und entschlüsselt das in Keilschrift verfasste Gilgamesch-Epos.Zaleekhah, eine Anfang dreißig-jährige Hydrologin, im heutigen London lebend, ist frisch getrennt. Sie steht am Wendepunkt ihrer Biografie, zieht in ein Hausboot und stellt sich schließlich ihrer Vergangenheit, die vom Tigris schicksalhaft bestimmt wurde.Auch die junge Narin, die der kulturellen Minderheit der Jeziden angehört, erlebt in ihrer türkischen Heimat und im Land der Flüsse von Euphrat und Tigris eine bewegende und prägende Zeit der Flucht und Verfolgung. Ihr Schicksal steht für das vieler Jeziden, ein aktuelles Thema, dass einen wichtigen Platz im Roman einnimmt.Die Autorin versteht es bestens einen großen Spannungsbogen zu schlagen, der die verschiedenen Zeitebenen großartig und kunstvoll verbindet. Über die Lebendigkeit der Charaktere    gelingt ein tiefes und eindrucksvolles Eintauchen in die Lebenswirklichkeiten der Figuren. Ganz besonders gefallen hat mir das Wechselspiel zwischen Gegenwart und Vergangenheit, alles, was heute passiert, hat einen Bezug zur Geschichte, ob in den Familien der Protagonisten oder in den verschiedenen Kulturen.Elif Shafak hat nach Das Flüstern der Feigenbäume wiederum einen unglaublich vielschichtigen, mitreißenden und enorm kenntnisreichen Roman geschrieben, der nicht nur ihre Fans begeistern wird.
Hanser, 28 EUR

Ariane Grundies: Als Anders in mein Leben rollte (Maike)

Anders gefällt uns :)
Besonders der Anders aus dem neuen Buch von Ariane Grundies für Kinder ab 9 Jahren (wunderschön illustriert von Regina Kehn).
Anders heißt der neue Mitschüler von Ronja, der Ich-Erzählerin. Ronja soll mit ihm die Hauptrollen im Schultheaterstück spielen, und zwar nur, weil Ronjas Wohnung im Erdgeschoss liegt und so für ihn mit dem Rollstuhl besser zu erreichen ist. Anders taucht dann ausgerechnet in dem Moment bei ihr zuhause auf, als Ronjas Eltern ihr eröffnen, dass sie sich trennen werden. Anstatt sich von Ronjas miesen Laune vertreiben zu lassen, wird Anders durch seine empathische Art zum Komplizen mit den besten Ideen. Und andersherum genießt er Ronjas Unaufgeregtheit bezüglich seiner Behinderung.
Ronja soll schon ein paar Tage nach der Elternbeichte den neuen Freund der Mutter und dessen beide Kinder treffen. Schnell steht fest: Anders kommt auch mit. Das Kennenlernen läuft total daneben, besonders für Ronjas Mutter, die diverse Male mit der Polizei aneinander gerät und ohne es zu wissen große Bekanntheit auf Instagram erlangt. Die Unbeholfenheit der Erwachsenen wird in diesem Buch gelungen auf die Schippe genommen und zudem erzählt es eine wunderbare Freundschaftsgeschichte.
Rotfuchs, 202 Seiten, 14,90 EUR

Mirrianne Mahn: Issa (Empfehlung von unserer Kundin Viviane)
Issa trägt ihr Baby unterm Herzen und fliegt nach Kamerun - auf Drängen ihrer Mutter und gegen den Willen des Kindvaters. Für sie selbst ist es vorwiegend eine Flucht aus der Streitsituation mit den beiden.Dort angekommen, wird sie sich Ritualen unterziehen, die sie verängstigen, belustigen und an ihre Grenzen bringen werden.Wa
s für Issa zunächst nur eine lästige Pflicht ist, vereinnahmt sie schon bald gänzlich. Hilfe und Beistand bekommt sie von ihrer Großmutter und Urgroßmutter, deren Leben zwischen der Gegenwart Issas aufgerollt wird. Die Vergangenheit zeigt die Stärke der Frauen, die vor Issa da waren und gekämpft haben für ein gutes Leben - gegen die Widrigkeiten des Kriegs, der Traditionen und Hierarchien. Mirrianne Mahn schafft es, das Leben von Issa und ihren Vorfahren in einer Weise zu verweben, die Nähe schafft und die Kraft und Anstrengung zutage fördert, die nötig war, um am Leben zu bleiben und Leben zu schaffen. Traditionen, Bräuche und der eigene starke Wille bringen die Geschichten voran und lassen sie am Ende bei Issa zusammenlaufen.Beim Lesen fühlte ich mich ganz präsent in der Geschichte Issas, konnte die Frauen förmlich sprechen hören und war ganz abgetaucht in die abenteuerliche Reise zum Frausein. Dadurch, dass Issa die Bräuche und Herangehensweisen ebenso fremd sind, wie sicherlich vielen Leser*innen, wachsen wir gemeinsam in die neue Rolle und lernen viel über Demut, Opfer und die Macht der Gottheiten.Di
e Autorin, Politikerin und Theatermacherin Mirrianne Mahn setzt sich gegen Diskriminierung und für mehr Diversität ein. Im Mai stellte sie ihren Debütroman ‚Issa‘ auf Einladung deund des Theaters in Krefeld vor.
Rowohlt Verlag, 304 Seiten, 24 EUR

Gaea Schoeters: Trophäe (Annette)
Von der bildgewaltigen Kraft dieses Romans wird man vom ersten Satz an eingesogen und kann sich sowohl der Erzählkunst der großartigen flämischen Autorin als auch dem ungeheuren Thema des Jagens und Tötens nicht entziehen. Dieses Buch hat mich komplett überrascht und gleichzeitig absolut fasziniert: Der kurze Auftakt und das sechste Kapitel bilden den Rahmen um die fünf (!) wesentlichen Teile des Buches, in denen es um einen relativ unsympatischen, reichen, amerikanischen Großwildjäger geht, der es in seiner diesjährigen Afrika-Reise darauf abgesehen hat, das letzte Großwild in seiner Sammlung der Big Five, ein Nashorn, zu erlegen. Die Jagd entwickelt sich jedoch völlig anders als geplant und gerät, wie es scheint, außer Kontrolle. Die inhaltliche Zuspitzung und Spannung der Ereignisse erzeugen beim Lesen eine intensive Auseinandersetzung mit  Fragen zu Postkolonialismus und den menschlichen Abgründen im Besonderen. Überraschend ist es, wie es der Autorin gelingt, trotz der schwierigen Thematik eine große Nähe zu den Protagonisten zu schaffen, sodaß alles unmittelbar wirkt. Gaea Schoeters Naturbeschreibungen sind einerseits atmosphärisch und metaphorisch, andererseits drastisch naturalistisch - aber nie übertrieben. Sehr kenntnisreich und präzise sind ihre Formulierungen, kein Wort ist überflüssig und keines zu wenig. Dieser ungewöhnliche Roman bietet ein herausragendes und intensives Leseerlebnis mit Tiefgang!  
Aus dem niederländischen von Lisa Mensing, Szolnay-Verlag

Fabio Stassi: Die Seele aller Zufälle (Maike)
Schon mal von einem Bibliotherapeuten gehört? Der ehemalige Lehrer Vince Corso ist ein solcher und versucht, seine Klientel mit Literaturempfehlungen zu heilen. Die Menschen kommen zu ihm in seine römische Dachgeschosswohnung und fragen ihn um Rat. Außerordentlich unterhaltsam und absonderlich sind diese Gespräche. Einmal ist da ein homophober, fremdenfeindlicher Mann, der eigentlich keine Hilfe will, sondern dem Bibliotherapeuten nur seine Ansichten aufdrängen möchte. Diesem empfielt Vince Corso ungefragt ein Kinderbuch: Das kleine Blau und das kleine Gelb von Leo Leonni. Ein anderes mal besucht ihn eine Frau, die keine Freude mehr am Lesen hat. Nach mehreren Buchempfehlungen deckt sie enttäuscht die Schwachstelle der Vorschläge auf: Es ist keine einzige Autorin dabei. Eine Fehlstelle des Buches, über die sich der Autor selbst mokiert.Ein Detektivroman wird es in dem Moment, als eine andere Dame ein außergewöhnliches Anliegen vorbringt. Ihr dementer Bruder (ehemals polyglott, großer Bibliophiler und Weltreisender) wiederholt immer wieder dieselben Satzfetzen. Sie ist davon überzeugt, dass es dem Bruder helfen würde, wenn das Buch, aus dem die Fragmente stammen, gefunden werden würde. Vince Corso vermutet andere Gründe hinter diesem Auftrag und beginnt seine Nachforschungen, die aufgrund der feinen Erzählung und literaturverliebten Details außerordentlich viel Spaß beim Lesen machen. Laut Annemarie Stoltenberg vom NDR macht die Lektüre sogar glücklich.Am Ende des Buches befindet sich eine Liste mit Vince Corsos Leseempfehlungen. Ein Buch also für alle Bibliophilen und diejenigen, die es noch werden wollen.
PS: Es ist bereits der zweite Fall von Vince Corso. Der Erste mit dem Titel 'Ich töte wen ich will' erschien im Jahr 2022.
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki, Edition Converso, 288 Seiten, 24 EUR

Bree Paulsen: Knobi und die Hexe & Knobi und der Vampir (Maike)
Knobi ist ein kleines verzaubertes Knoblauchmädchen und die Hauptfigur bzw. Superheldin in den Comics von Bree Paulsen. Die Hexe Agnes hat Knobi und einer kleinen Gruppe von anderem Gemüse Leben eingehaucht, da sie die Arbeit im Hexengarten nicht mehr alleine geschafft hätte. Bei dieser Zauberei sind liebevolle, rührend unschuldige Charaktere entstanden. Dazu zählt auch Knobis bester Freund Karotte und der miesepetrige Sellerie. Der erste Band 'Knobi und der Vampir' zeigt Knobis erstes großes Abenteuer. Ein Vampir ist zur großen Bestürzung aller im benachbarten Schloss eingezogen. Und da ist doch klar, wer zu ihm gehen und ihn verscheuchen soll, schließlich ist allgemein bekannt, dass Knoblauch gegen Vampire hilft. Trotz ihrer Angst wagt Knobi sich mutig zum Schloss und wird, genauso wie die Leser*innen von der Geschichte, überrascht.
Im zweiten Band 'Knobi und die Hexe' erfährt man mehr über Knobis Entstehungsgeschichte und die geheimnisvolle Vergangenheit der Hexe. Knobi ist außerdem dabei, immer menschlicher zu werden und ihre eigenen Kräfte zu entdecken. Erneut stellt sich die sicherheitsliebende Knobi einem für ihre Verhältnisse sehr großen Abenteuer.
Es sind irrwitzig phantasievolle, dabei auch sehr einfühlsame Geschichten, die zeigen, dass es sich lohnt, über seinen Schatten zu springen, Neues zuzulassen und für seine Freund*innen einzustehen.
Die Comics sind ab 8 Jahren empfohlen, eignen sich aber für jedes Alter, auch schon für Jüngere zum Vorlesen, da es eigentlich keine richtigen Bösewichte gibt. Übersetzt von Tatjana Kröll.

Teresa Präauer: Kochen im falschen Jahrhundert (Annette)
Mit Teresa Präauers Roman Kochen im falschen Jahrhundert taucht man in die Szenerie einer Essens-Einladung und setzt sich quasi als siebter, beobachtender Gast an den gedeckten Tisch.
Die „Gastgeberin“, so wird die Protagonistin schlicht genannt, ist in ihrer Rolle noch unerfahren im Vorbereiten und Ausrichten von geselligen Abendessen für Freunde und Bekannte. Durch unerwartete Ereignisse droht die Planung zu entgleiten.
Auffallend kreativ sind die Kapitel mit Essens- bzw. Getränke-Zutaten überschrieben. Gleichermaßen spielerisch wirkt der eigentliche Text, indem er dreimal mit anderen Ausgangskonstellationen beginnt und sich zeitweise szenisch wie ein Kammerspiel liest.
Alle handelnden Charaktere sind namenlos, werden aber durch ihre Beziehung zur Protagonistin, der jungen „Gastgeberin“, gekennzeichnet.
Bald erfährt man, dass sich die Gastgeberin in ihrer Rolle nicht sonderlich wohl fühlt und folgt ihren bzw. den Ausführungen der Autorin mit gespanntem Interesse. Die Psychologie einer geselligen Runde ist Thema dieses amüsanten Romans, wobei mit der Vorhersehbarkeit eines gemeinsamen Essens mit Freunden klug und variierend gebrochen wird - denn Gäste sind unberechenbar! Die vordergründige Leichtigkeit im Umgang mit Freunden weist bei näherer Betrachtung auch auf die Probleme unterschiedlicher Lebensumstände und -wirklichkeiten hin.
Fazit: Ein kurzweiliger, intelligenter Roman, der mit österreichischem Humor gespickt ist und dessen Cover auffallend schön von Teresa Präauer selbst gestaltet wurde.
198 Seiten, Wallstein-Verlag, 22 €

Caroline Wahl: 22 Bahnen (Ursa)
Dieser großartige Debütroman der jungen Autorin Caroline Wahl erzählt die Geschichte der Mathematikstudentin Tilda, die noch mit ihrer 10jährigen Schwester Ida und ihrer alkoholsüchtigen, depressiven und manchmal auch zu Gewaltausbrüchen neigenden Mutter in einer Kleinstadt im traurigsten Haus in der Fröhlich-Straße zusammenlebt. Während all ihre Freunde nach dem Abi zum Studieren wegzogen und eigene Wege gingen, stellte Tilda die eigenen Träume zurück. Sie lebt einen zeitlich völlig durchgetakteten Alltag, in dem sie neben der Arbeit am Masterabschluss und ihrem Job als Kassiererin versucht, für Ida eine verlässliche, liebevolle und verantwortungsvolle große Schwester zu sein. Nur nach der Arbeit gönnt sie sich täglich eine kleine Auszeit im Schwimmbad und taucht ab um loszulassen und schwimmt danach genau 22 Bahnen.Ihre Welt gerät ins Wanken, als ihr Professor ihr rät, sich auf eine aussichtsreiche Promotionstelle in Berlin zu bewerben. Tilda träumt schon lange von einem selbstbestimmten Leben in Berlin, aber sie zweifelt sehr, dass sie Ida mit ihrer unberechenbaren Mutter alleine lassen kann, wo sie deren Gewalt ausgeliefert ist.So erarbeitet Tilda einen Plan, wie aus der kleinen schüchternen Ida eine lebenstüchtige, selbstbewusste Kämpferin wird.Doch eines Abends finden die beiden Schwestern Zuhause ihre Mutter bewußtlos im Wohnzimmer vor.Trotz dieser harten und sehr traurigen Realität der Protagonistin strahlt dieser Roman eine Hoffnung und große Kraft aus und enthält zudem eine sehr schöne Liebesgeschichte. Wahls Schreibstil ist im Kontrast zu den verhandelten Themen ungewöhnlich leicht und fließend und wirkt durch die vielen Dialoge sehr unmittelbar. Ein ganz besonderer Lesegenuss!
Diogenes, 2023, 22 €

Birte Müller: Die Kartoffel und der Sinn des Lebens (Annette)
„Es war einmal eine kleine Kartoffel..“: so märchenhaft beginnt dieses wunderschön gestaltete Kinderbuch von Birte Müller, dass zu Beginn tatsächlich an das Märchen vom dicken fetten Pfannkuchen erinnert. Der Protagonist dieser Geschichte ist eine vorwitzige kleine Kartoffel, die sich von ihren anderen Artgenossen darin unterscheidet, dass sie nicht - wie vorgesehen - im Essen landen möchte, sondern den Sinn ihres Daseins erforschen will. Darum macht sie sich spontan auf, um andere Lebewesen nach dem Sinn ihres Lebens zu fragen: Sie trifft u.a. auf den Regenwurm, die Blume und Hummel, lernt, ganz beiläufig, dass diese einen natürlichen Kreislauf darstellen und ist ganz überrascht von den vielen Möglichkeiten unterschiedlicher Existenzen. Von soviel Erlebtem wird sie schließlich ganz müde, legt sich in einer Erdkuhle schlafen, träumt ganz lange vom Sinn des Lebens und allem was sie erfahren hat. Als sie dann im Frühling aufwacht und merkt, dass sie Wurzeln geschlagen hat und zu einer wunderbaren Kartoffelpflanze heranwächst, weiß sie mit einem Mal was ihr Sinn des Lebens Ist! Auch wenn dieses Buch vor lauter lustigen Kartoffel, groß oder klein, nur so wimmelt, die eine Kartoffel erkennen die kleinen und großen Leser immer an ihrer kleinen Kartoffelnase, die ziemlich neugierig und naseweis ihr Kartoffel-Abenteuer erlebt. Dieses, durch seine Kartoffeldruck-artigen und farblich sehr harmonisch gestalteten Illustrationen, wunderbar kindgerechte Bilderbuch, vermittelt mit seinen vielen freundlichen Gestalten ganz viel Mut und Lebensfreude. Und am Ende der Geschichte, wo es um die Zukunft der vielen ‚Kinder-Kartoffeln‘ geht, bleibt noch viel Raum für die Phantasie der kleinen Leserinnen und Leser. Eine rundum gelungene Geschichte für Kinder ab circa 5 Jahren, die Dinge auch mal hinterfragen und neugierig sind auf die Vielfältigkeit und den Sinn des Lebens.
2023, Verlag Freies Geistesleben

Michel Bergmann: Mameleben (Annette)
Ein Buch über die eigene Mutter zu schreiben, ist eine zutiefst persönliche Angelegenheit, was das Buch 'Mameleben oder das gestohlene Glück' von Michel Bergmann sehr eindrücklich und berührend dokumentiert. Dabei erzählt Bergmann als Ich-Erzähler mit soviel Witz und Empathie von seiner Mutter, die ihrerseits in ihrer exzentrischen und widersprüchlichen Art eine harmonische Mutter-Sohn-Beziehung fast unmöglich macht, sodass man als Leser ganz in den Bann dieser komplizierten Beziehung hineingezogen wird. Die in den Zeiten hin- und herspringenden Kapitel blicken auf das Schicksal der jüdischen Frau, auf ihre Flucht über Frankreich und die Schweiz bis hin zur Familien- und Existenzgründung im Frankfurt der Nachkriegszeit. Ein ständiger Überlebenskampf prägt das Leben der schönen, selbstbewussten und energischen Frau und Mutter und die übersteigerten Erwartungen an ihre Nächsten: Besonders der Sohn leidet unter dieser, von Forderungen und egozentrischen Ansprüchen markierten, Beziehung. Mit viel Gespür für Wortwitz und sehr anschaulich unterstrichen durch die jiddischen Redewendungen der Mutter (nachzuschlagen in einem angefügten Glossar), schildert der Autor in wunderbaren Dialogen ein generationsübergreifendes Familienleben. Trotz des ernsten Hintergrunds ist dieser Text oft hinreißend komisch, ist dennoch zuversichtlich und zeigt viel Wärme und Menschlichkeit. Ein intensiver Lesegenuss!
Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück. Diogenes, 2023, 25€

Caroline Schmitt: Liebewesen (Maike)
Das erste Date auf der Vernissage, das zweite in der Badewanne. So in etwa beginnt die Beziehung von Lio und Max. Caroline Schmitt erzählt in ihrem Debutroman 'Liebewesen' von zwei Menschen, die eigentlich nur nach außen hin gut funktionieren. Er hat Depressionen und sie, die Ich-Erzählerin, ist traumatisiert. Bis auf ihre Mitbewohnerin Mariam hat sie bisher noch niemanden an sich herangelassen. Doch auch mit Max fühlt sie sich wohl und im Zusammensein mit ihm erfährt man als LeserIn, wie selbstbestimmt, schlau und lustig sie ist. Lio und Max versuchen, sich ein gemeinsames, 'normales' Leben aufzubauen. Später wird Lio ungeplant schwanger, wodurch nochmal alles auf den Kopf gestellt wird. Den Zwiespalt, in dem sich Lio so oft und besonders in der Schwangerschaft befindet, kann man beim Lesen unmittelbar nachfühlen. Die Autorin findet die richtigen Worte für die innere Versehrtheit der Figuren und legt nebenbei Dinge auf den Tisch, mit denen heute wahrscheinlich viele Paare zu kämpfen haben. Es ist eine recht schonungslose, aber dennoch leicht erzählte Geschichte, die sich sehr zu lesen lohnt.
Caroline Schmitt, Jahrgang 1992, studierte Journalismus an der University of the Arts London. Sie lebt in Berlin und arbeitet als freie Journalistin für Deutsche Welle, ZDF und funk. 'Liebewesen' ist im Januar 2023 im Eichborn Verlag erschienen.

Tove Ditlevsen: Kindheit. Jugend. Abhängigkeit (Annette)
Die unter dem Namen Kopenhagen-Trilogie erschienene Autobiographie der dänischen Literatin Tove Ditlevsen gibt einen gleichermaßen schonungslosen wie fesselnden Einblick in ihr außergewöhnliches Leben im 20. Jahrhundert. Als Arbeiterkind aufgewachsen, ist T.D.´s frühe Schreiberfahrung vom Außenseitertum und der fehlenden Anerkennung geprägt. Mit einer ungewöhnlichen, kompromisslosen Zielstrebigkeit, den Beruf der Schriftstellerin zu realisieren, schildert sie ihr krisenhaftes, auch von Suchterfahrungen gezeichnetes Leben in vier Ehen, aus denen drei Kinder hervorgehen. Die klare, schnörkellose und doch bildhafte Sprache ist so pointiert gesetzt wie in ihren Gedichten, mit denen sie als 22jährige debütierte und die die biografischen Aufzeichnungen wunderbar ergänzen. Neben den intensiven persönlichen Erfahrungen als emanzipierte Frau breitet die Autorin zudem ein tiefgründiges Bild der damaligen gesellschaftlichen Lebensumstände vor uns aus. Ein von der ersten Zeile an berührendes Leseerlebnis.
(Übersetzt v. Ursel Allenstein)
Büchergilde Gutenberg bzw. als Einzelausgaben im Aufbau Verlag

Una Mannion: Licht zwischen den Bäumen (Wolfgang)
So ganz begreift man als Nichtheranwachsender nicht, warum man sich so von einer coming-of-age-Geschichte über eine im ländlichen Amerika der 80er Jahre aufwachsende 14-Jährige fesseln lässt, auch wenn das Buch als literarischer Thriller angepriesen wird. "Thriller" ist ein wenig euphemistisch - leicht bedrohliche Athmosphäre verbunden mit latenter Spannung trifft es besser.
"An dem Abend, als wir Ellen am Straßenrandzurückließen..." beginnt der Roman über Freundschaft und Verrat, Vertrauen und Alleingelassenfühlen, Geborgensein und Bedrohung und das Lebensgefühl zwischen Irland und dem ländlichen Pennsylvanien. Ellen ist die jüngere Schwester der Ich-Erzählerin. "Libby, die immer unter Bäumen ist", wie ihr verstorbener, irischstämmiger Vater auf einer Widmung schrieb. Libby muss nicht nur die böse Geschichte mit ihrer Schwester managen, weil die Mutter mit vier Kindern, Beruf, geheimem Geliebten und ohne Mann und Vater überfordert ist, die ältere Schwester auf dem Absprung ins eigene Leben und der Bruder sich lieber in die Planeten-und Sternenwelt zurückzieht. Und dann neben einem leicht durchgeknallten Vietnam-Veteran noch der normale Wahnsinn des Heranwachsens und die Unsicherheit, wer gut, wer böse, wer Freund, wer Feind ...
Literarisch ohne Zweifel, Thriller insofern: Einmal angefangen legt man's ungern aus der Hand.
Steidl Verlag, Leinen, 337 Seiten, 24 €

Atsuhiro Yoshida: Gute Nacht Tokio (Maike)
'Gute Nacht Tokio' von Atsuhiro Yoshida, übersetzt von Katja Busson, ist ein besonders fein komponierter Episodenroman. Häppchenweise lernen wir die Figuren kennen, die alle um dieselbe Uhrzeit im nächtlichen Tokio unterwegs und deren Geschichten miteinander verwoben sind. Ein Taxifahrer, der u. a. eine Requisiteurin umherfährt, die kuriose Filmrequisiten, wie beispielsweise einen Erdnussknacker, besorgen muss, oder eine Frau, die Telefone entsorgt bzw. bestattet, darunter auch die Sprachbox der Telefonseelsorge. Der Klappentext verspricht, dass das Lesen dieses Buches glücklich macht. Auf jeden Fall entführt es uns, zumindest für kurze Zeit, in ein anderes, märchenhaftes Jetzt. Die Sprache hat dabei eine wunderbare Leichtigkeit.
Der Cass Verlag ist auf japanische Belletristik und Kriminalliteratur spezialisiert. Der Roman gehört zur Hotlist 2022, gehört also zu den 10 Büchern des Jahres aus unabhängigen Verlagen.
Als Krefelder Buchladen müssen wir natürlich auch betonen, dass die Krähen in diesem Buch mal wieder eine zwar kleine, aber symbolträchtige Rolle spielen 😄

Andrej Kurkow: Graue Bienen (Annette)
Dieser im Ton unaufgeregte Roman über den Bienenzüchter Sergej, der in einem fast verlassenen, ukrainischen Dorf lebt, hat trotz des Schauplatzes eine warmherzige Grundstimmung. 2014 fanden die hier thematisierten kriegerischen Auseinandersetzungen in Teilen der Ukraine statt, vor denen der Protagonist schließlich mit seinen Bienen auf der Suche nach einem friedlichen Platz auf die Krim flieht. Der Leser taucht in Sergejs Leben ein, fühlt mit und begleitet ihn in seiner schlichten, naturverbundenen Art. Ein wunderbares, nachdenkliches und facettenreiches Buch des großen ukrainischen Autors, das ganz nebenbei auch viel Bienenwissen näher bringt, aber vor allem einen interessanten Blick auf das Land und seine unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen wirft.
Unbedingt lesen!

Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt (Steffi und Maike)
Der Roman beginnt heftig und unerwartet. Die Autorin braucht nur eine Seite und das Leben einer Familie mit drei Kindern gerät völlig aus den Fugen. Nach dem Seltbstmord der Mutter (Sarah) versucht deren beste Freundin Helene, dem Vater unter die Arme zu greifen und verliert sich immer mehr in der Rolle der Verantwortlichen. Gleichzeitig steckt sie in einer toxischen Beziehung. Die älteste Tochter Lola, die schon vor dem Tod der Mutter die Rollenverteilung der Eltern in Frage gestellt hat, schlägt jetzt gemeinsam mit ihren Freundinnen einen ganz neuen, extremen Weg ein, der aufrüttelt und dem Buch eine weitere, kraftvolle Ebene gibt.Das Buch gibt uns eine ehrliche und sensible Sicht auf FreundInnenschaft, Trauer, Familienzusammenhalt und die Wut, die lauert, nicht nur auf die Ungerechtichkeiten patriarchaler Strukturen. Ein gut geschriebenes Buch, das ganz wichtige Themen dieser Zeit in einer mitreißenden, unvorhersehbaren Geschichte vereint. Nichts für schwache Nerven.

Kristina Hauff: Unter Wasser Nacht (Maike)
Unter Wasser Nacht ist ein Spannungsroman, der uns allen sehr gut gefallen hat.
Das Buch ist von Anfang an rätselhaft und mitreißend, dazu auch noch schlau geschrieben.
Thies und Sophie müssen mit einem schrecklichen Verlust leben. Vor einem Jahr ist ihr kleiner Sohn unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen. Sie wollten sich gemeinsam mit einem befreundeten Pärchen (Inga und Bodo) in den Elbauen eine gemeinsame, autonome Idylle, ein eigenes Bullerbü, aufbauen. Stattdessen leben die Familien seit der Tragödie aneinander vorbei. Alle Träume sind zerbrochen. Doch dann taucht eine unbekannte Frau auf, die eine besondere Anziehungskraft hat, die Beziehung der Familien neu aufmischt und vieles ans Licht bringt. Als LeserIn taucht man immer tiefer ein in die Verstrickungen der ProtagonistInnen. Die Autorin Kristina Hauff schreibt wunderbar psychologisierte Geschichten. Vor diesem Roman schrieb sie Kriminalromane und Thriller unter ihrem echten Namen Susanne Kliem.

Percival Everett "Gods Country" (Wolfgang)
Bob Dylans Song "With god on our side" (The cavalries charged, The Indians fell) ist nicht notwendig, um eine gespaltene Einstellung zur Entwicklung der USA zu kriegen, es genügt auch etwas Beschäftigung mit ihrer Geschichte oder - unterhaltsamer, aber nicht weniger verstörend - die Lektüre eines Romans wie  "God's Country" von Percival Everett. "Eine neue Perle der Weltliteratur, die Sie sich nicht entgehen lassen sollten" ist in deutscher Erstübersetzung als Band 12 der Reihe Weltlese in der Edition Büchergilde erschienen. Der faule, nicht gerade besonders helle und nicht vor Empathie überschäumende Farmer Jack Marder muss ansehen, wie seine Farm von einer als Indianer gekleideten marodierenden Bande niedergebrannt, sein geliebter Hund erschossen und seine Frau entführt wird (Reaktion der Bewohner des nahen Städtchens: Was, sie haben deinen Hund erschossen?!"). Er heuert den Fährtenleser Bubba an. Sein Problem: Er hat kein Geld und Bubba ist schwarz. Dann beißt sich auch noch ein weiteres Opfer der Bande, eine jugendliche Waise, an ihm fest und der indigene Stämme jagende General Custer treibt in der Gegend sein Unwesen.  Erhält man von James Fenimore Coopers "Der letzte Mohikaner" einen fesselnden Eindruck Nordamerikas im 18. Jahrhundert, so erhellt Percival Everett mit diesem Roman das dunkle 19.
Der Autor, Weltreisende und politische Kommentator Ilija Trojanow (Der Weltensammler), vor fast anderthalb Jahrzehnten Gast des anderen Buchladens mit seinem Buch Nomade auf 4 Kontinenten, resümiert: "Ich verschlang diese skurille und verstörende Geschichte, diese exemplarische Parabel über einen Außenseiter, der den rechten Weg zwar auch nicht kennt, aber nie vom Pfad der Menschlichkeit abkommt."
Edition Büchergilde, 223 Seiten, gebunden, 22,95 €

Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse (Ursa)
Die Verfilmung des Bestsellers: "Der Gesang der Flusskrebse" von Delia Owens kommt ab August in die Kinos.Bevor Du dir diesen Film aber im Kino anschaust, rate ich Dir, dieses tolle Buch vorher selbst zu lesen. So kannst Du mit deiner eigenen Phantasie und in deinem Tempo in diese Geschichte eintauchen und trotz des doch harten Plots diesen märchenhaft poetischen Zauber der Sprache sinnlich wahrnehmen und genießen. Lese und spüre die große Not, die Einsamkeit und die Angst der kleinen Kya, die nacheinander von der Mutter, den Geschwistern und dem alkoholabhängigen, gewalttätigen Vater im Sumpfland der Küste North Carolinas zurückgelassen wird und ganz alleine versucht in dieser Wildnis zu überleben. Aus Angst vor Menschen verweigert die 10jährige Kya den Schulbesuch, wächst fast völlig isoliert auf und lernt aber im Einklang mit der kargen Natur und den Tieren zu überleben. Im Lauf der Jahre entwickelt sich Kya zu einer wilden scheuen jungen Frau, die sich danach sehnt, die Schönheit des Lebens mit einem Menschen teilen zu können. Sie lernt zwei junge Männer kennen, geht sehr vorsichtig in Kontakt und verliebt sich leider nicht in den Richtigen. Doch eines Tages findet man eine Leiche und Kya wird wegen Mordes angeklagt...Spannend!

Bernhard Hennen: Die Chroniken von Azuhr - der Verfluchte (Empfehlung unserer Praktikantin Maite)
Die Chroniken von Azuhr: der Verfluchte von Bernhard Hennen ist der Anfang einer Spannenden Fantasy-Trilogie voller Legenden und Intrigen. Der Sohn des Erzpriesters gerät zusammen mit zwei anderen in den Bann einer alten Prophezeiung und Legenden beginnen wahr zu werden. Der Schreibstil ist flüssig und es werden stets Ereignisse von verschiedenen Standpunkten aus erzählt, was die Geschichte nochmal komplexer und spannender macht. Der Fantasy-Roman ist nun ebenfalls als Taschenbuch erhältlich.

Tove Ditlevsen: Gesichter (Steffi)
Relativ harmlos beginnt "Gesichter", das wiederentdeckte Werk der Autorin der Kopenhagen-Trilogie. Was dann folgt mit autobiographischen Zügen und einer Vielzahl von Anspielungen auf Persönlichkeiten der damaligen Zeit ist ein Höllenritt durch den Kopf von Tove Titlevsen. Immer wird man hin- und hergerissen zwischen Realität und Wahnsinn in einem einzigartig spielerischen Stil. Auch für Fans von A. Ernaux.

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